Ehemaliges Filmatelier Göttingen:
Zur Geschichte des Gebäudes

Die Filmstädte in der Bundesrepublik Deutschland heißen Berlin, Hamburg und München. Dass aber auch Göttingen von 1948 bis 1961 ein Zentrum der deutschen Filmindustrie war, ist heute kaum noch bekannt. Die Filmpioniere Hans Abich und Rolf Thiele ließen einige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg in einer ehemaligen aerodynamischen Versuchshalle auf dem Göttinger Militärflugplatz die modernsten Atelieranlagen der damaligen Zeit errichten. In den Studios der Filmatelier Göttingen GmbH entstanden rund 100 Spielfilme.

Das 1935 erbaute, kulturhistorisch bedeutsame Gebäude befindet sich mittlerweile im Eigentum der Firma Sartorius AG und steht auf dem Sartorius Campus im Industriegebiet Göttingen-Grone. Erhalten sind die Haupthalle sowie der Westflügel; der Ostflügel war marode und wurde im Herbst 2018 abgerissen. Frühere Adresse des Filmateliers war Elliehäuser Weg – die dortige Pforte ist ca. 1970 mit dem Umbau zum Fernmeldezentralzeugamt abgerissen worden –, aktuelle Adresse ist August-Spindler-Straße.

Die Halle hat eine außergewöhnliche Geschichte aufzuweisen, da sie erst für Flugversuche (Aerodynamische Versuchsanstalt, ab 1937, u. a. Horton-Nurflügler) und dann für Filmaufnahmen (Filmatelier Göttingen, ab 1948, u. a. Heinz-Erhardt-Klassiker) genutzt wurde. Auch ihre spätere Nutzung als Fernmeldezentralzeugamt der Deutschen Bundespost (ab 1970) ist nicht uninteressant, da von hier aus ein bundesweiter Einsatz bei Störungen des westdeutschen Telefonnetzes koordiniert wurde.

Von 1948-61 sind hier rund 100 Spielfilme hergestellt
worden. Nachdem die Filmaufbau Göttingen GmbH, gegründet von den zwei Pionieren Hans Abich und Rolf Thiele, das Atelier bereits nach ihrem ersten Film „Liebe 47“ an die neugegründete Filmatelier Göttingen GmbH (im Eigentum der Hamburger Vereinsbank) verkaufen musste, entstanden hier legendäre Produktionen wie Frank Wisbars Antikriegsfilme „Nacht fiel über Gotenhafen“ und „Hunde, wollt Ihr ewig leben?“ sowie die bereits erwähnten Heinz-Erhardt-Klassiker, allesamt produziert von der Deutschen Film Hansa (Hamburg) als Hauptmieterin der Atelieranlagen.

Die Eröffnung des damals modernsten Studiokomplexes Deutschlands war am 21. August 1948 erfolgt, mit Beginn der Dreharbeiten zu „Liebe 47“ nach Wolfgang Borcherts Theaterstück „Draußen vor der Tür“. Interessant wäre es zu wissen, was mit der ehemaligen Atelierhalle passieren soll. Denkbar wäre beispielsweise eine multifunktionale Nutzung als Kongresszen¬trum für die Firma Sartorius AG, ein Museum zur Firmengeschichte und zu Göttingens Geschichte als Filmstadt sowie zusätzlich als Film- und Fernsehstudio.

Nebenbei sei noch erwähnt, dass es in der Nachkriegszeit zwei Filmateliers in Niedersachsen gab – Göttingen und Bendestorf, 30 km südlich von Hamburg im Landkreis Harburg. Hier wird vom „Hollywood in der Heide“ gesprochen (analog zu Göttingen: „Hollywood an der Leine“). Die Hallen der Bendestorfer Ateliers sind inzwischen abgerissen. Es wäre schade, wenn die Atelierhalle in Göttingen ein ähnliches Schicksal wie die Bendestorfer Anlagen ereilen würde.

Im Januar 2018 hatte der Vorstandsvorsitzende der Firma Sartorius AG, Dr. Joachim Kreuzburg, in einem HNA-Interview seine zukunftsweisenden Visionen für den Standort Göttingen vorgestellt. Besonders bemerkenswert war hier sein Vergleich mit der Stadt Mainz und der Bedeutung des ZDF als dortigem Standortfaktor. Zu Beginn der 1960er Jahre wollte das ZDF ursprünglich die Anlagen der Filmatelier Göttingen GmbH als Produktionsstätte übernehmen; die Nähe zur innerdeutschen Grenze hatte dieses Vorhaben letztendlich zum Scheitern gebracht.

Es bleibt spannend, wie die Zukunft der ehemaligen Atelierhalle gestaltet wird. Eine vielfältige Nutzung wäre denkbar: als Kongresszentrum für die Firma Sartorius AG, als Museum zur Unternehmensgeschichte und der filmischen Historie Göttingens sowie ergänzend als Film- und Fernsehstudio. Die Anlagen der zweiten Produktionsstätte in Niedersachsen, der Atelierbetriebe Bendestorf, sind inzwischen abgerissen. Es wäre schade, wenn die Atelierhalle in Göttingen ein ähnliches Schicksal ereilen würde.

Damals der modernste Studiokomplex Deutschlands: Im Göttinger Filmatelier wurden rund 100 Spielfilme gedreht.
Bildnachweis: Städtisches Museum Göttingen

Westflügel des Ateliers an der damaligen Landstraße zwischen Holtensen und Grone (heute Otto-Brenner-Straße, Fotografie um 1950).
Bildnachweis: Städtisches Museum Göttingen

Aerodynamische Versuchshalle (1937-45)

An der nordwestlichen Ecke des Göttinger Militärflugplatzes hatte die Aerodynamische Versuchsanstalt (AVA, heute Teil des DLR) eine Halle für Flugversuche bauen lassen. Gründer Prof. Dr. Ludwig Prandtl hatte seit 1904 an der Georg-August-Universität gelehrt und geforscht, 1908 einen Windkanal für Versuche an Luftfahrt-Modellen gebaut und eine Tragflügeltheorie für den Flugzeugbau entwickelt. Aufgrund der Nähe zur AVA kamen zu Beginn des 1940er Jahre die Brüder Walter und Reimar Horten – Pioniere der Nurflügeltechnik – nach Göttingen. Eigens für die Entwicklung der Horten IX, die angeblich Tarnkappeneigenschaften besaß, hatte man dort das „Sonderkommando IX“ eingerichtet. Gebaut in einer Halle der Autobahnmeisterei, wurde der Nurflügler auf dem nahegelegenen Flugplatz erprobt, wobei auch die AVA-Halle genutzt wurde.

Filmatelier (1948-61)

Göttingen war in den 1950er Jahren eines von fünf Filmzentren in Westdeutschland (inkl. Westberlin). Der Ursprung des Südniedersächsischen Filmschaffens war Abichs und Thieles Konzept, „Filme gegen den Film“ zu machen, ein Gegenentwurf zu glorifizierenden UFA-Produktionen im Dritten Reich. Trotz der sogenannten „Göttinger Serie“, die mit „Liebe 47“ begann, aufwändigen Literaturverfilmungen nach Theodor Fontane und Thomas Mann sowie der Curt-Goetz-Komödien waren es vor allem die Filme mit Heinz Erhardt, die dem Publikum auch heute noch im Gedächtnis geblieben sind.

Erster Drehtag zu „Liebe 47“ am 21. August 1948 im Rahmen der Eröffnung des Göttinger Filmateliers.
Bildnachweis: Henschel-Museum Kassel/Repro: Lars Klein

Blick aus dem Filmgelände in Richtung Nordosten (1949). Auf der freien Fläche im Hintergrund befindet sich heute der Sartorius Campus.
Links im Bild: Architekt Haag.
Bildnachweis: Henschel-Museum Kassel/Repro: Lars Klein

Das Filmatelier 1957 aus der Luft fotografiert, mit noch wenig bebauter Fläche des zum Industriegebiet umgewidmeten Flugplatzgeländes.
Bildnachweis: Städtisches Museum Göttingen

Nach der Kinokrise gelang es, die Existenz der Studios in Berlin, Hamburg und München wie auch die Anlagen in Bendestorf und Wiesbaden durch Fernsehproduktionen sicherzustellen. Ins Studio der Taunus Film GmbH zog am 1. April 1964 das neugegründete ZDF ein, nachdem sich Planungen zerschlagen hatten, die Produktionsstätten des Senders im Göttinger Atelier anzusiedeln. Tatsächlich sind nach Schließung des Ateliers viele Mitarbeiter zum ZDF nach Wiesbaden gegangen.

Fernmeldezentralzeugamt (1970-1995)

Ab 1970 wurde die Halle als Teil eines von zwei überregionalen Fernmeldezentralzeugämtern in Westdeutschland genutzt. Diese waren verantwortlich für Transportaufgaben zu allen bundesweiten Fernmeldezeugämtern sowie Instandhaltung fernmeldetechnischer Apparate. In Göttingen gab es eine große Zentralwerkstatt. Mit Privatisierung der Deutschen Bundespost wurde der Standort Mitte der 1990er Jahre aufgegeben.